Auf- und Umbau der Infrastruktur zur H2-Verteilung
„Der Wasserstoff kann kommen, das Gasverteilnetz ist bereit“
Die Bedarfe an Wasserstoff sind sowohl in Kommunen als auch in der Industrie umfassend vorhanden. Nun werden in diesem Umfeld die Planungen hinsichtlich einer Umsetzung dieser Marktbedürfnisse konkreter. Als Initialzündung dafür gilt der kürzlich beschlossene Aufbau eines H2-Kernnetzes (s. S. 18). Angesichts der Versorgungssituation ist jedoch klar, dass sich der Fokus zunehmend auf das Verteilnetz richten muss, was auch auf dem DVGW-Kongress deutlich wurde.
„Das Transformationstempo mit dem Ziel, den Wasserstoffhochlauf zu beschleunigen, muss aufrechterhalten, wenn nicht sogar erhöht werden“, betonte Prof. Dr. Gerald Linke Mitte September 2024 auf dem DVGW-Kongress in Berlin. Zudem forderte der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches weitere regulatorische Maßnahmen, die über die bereits erfolgten politischen Beschlüsse hinausgehen, etwa was das Wasserstoffbeschleunigungsgesetz, die Importstrategie oder das Wasserstoffkernnetz betrifft.
Ähnlich sieht dies Stefan Dohler. Der Präsident des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) und Vorstandsvorsitzende der EWE AG in Oldenburg unterstrich die Aufbruchstimmung unter anderem mit Blick auf den gestarteten Aufbau der Elektrolysekapazitäten sowie die im vergangenen Sommer auf den Weg gebrachten Klimaschutzverträge für die Industrie: „Wir müssen dranbleiben und dürfen das Momentum nicht verlieren.“ Dohler beobachtet hier im Versorgungsgebiet der EWE eine sehr hohe Nachfrage nach Wasserstoff.
Prof. Linke, DVGW: „Um den Wasserstoffhochlauf in Deutschland zu beschleunigen, muss der Fokus beim Ausbau der Wasserstoffinfrastrukturen stärker auf die Verteilnetze gelegt werden.“
Quelle: Bildschön GmbH/Vollmeyer
Diese Einschätzung teilt der DVGW-Präsident und Vorstandsvorsitzende der ESWE Versorgung in Wiesbaden, Jörg Höhler: „Wir müssen Druck auf dem Thema lassen.“ Dabei favorisiert Höhler einen möglichst breit angelegten Ansatz. Es gehe nicht darum, sich für Strom oder Wasserstoff in der Energieversorgung zu entscheiden, nein, man benötige beides. Gemeinsam mit den Energieversorgungsunternehmen Mainova und Entega erarbeitet ESWE eine Machbarkeitsstudie zum Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur im Rhein-Main-Gebiet – ein Projekt, das in der Zwischenzeit mit dem Innovationspreis Neue Gase ausgezeichnet wurde. Allerdings fordert auch Höhler klare Vorgaben und Unterstützung für die Verteilnetzbetreiber bei der Umstellung der Gasnetze auf Wasserstoff.
Portfolio CO2-freier Energieträger vonnöten
Dieser Appell stößt anscheinend auf offene Ohren bei der Bundesnetzagentur (BNetzA). „Die All-Electric-World ist ein volkswirtschaftlich ineffizienter Weg. Wir brauchen daher ein Portfolio CO2-freier Energieträger“, konstatierte Dr. Markus Doll auf der Veranstaltung. Für den Leiter Anlagen und Netzbetrieb bei der BNetzA ist klar, dass es zur konsistenten Planung der jeweiligen Infrastrukturen eines gemeinsamen Zielbilds bedarf. Ziel müsse eine über die Energieträger integrierte Netzentwicklung sein, betonte Doll in Berlin.
Als Initialzündung zur Lösung des Henne-Ei-Problems des Wasserstoffsektors sieht er den Beschluss zum Aufbau des rund 9.000 km langen H2-Kernnetzes. Dieses mittlerweile von der BNetzA genehmigte Vorhaben betrachtet man bei der Bonner Behörde als „Basis und Übergang in den zyklischen Prozess zur Netzentwicklungsplanung Wasserstoff/Erdgas“. Für den BNetzA-Experten Doll sind die nächsten Schritte klar: Für die CO2-freien Energieträger werden entsprechende Infrastrukturen benötigt. Dabei gibt es hinsichtlich der Einspeisung von Wasserstoff in die Netze laut Doll zwei Voraussetzungen. Einerseits ist der Einsatz dort sinnvoll, wo er volkswirtschaftlich effizient ist, und andererseits dort, wo keine anderen Dekarbonisierungsalternativen vorhanden sind. Im Konzert der klimaneutralen Gase spielt Biomethan nach der Einschätzung Dolls vor allem regional eine Rolle.
Hinsichtlich der benötigten Speicher, insbesondere der für Wasserstoff geeigneten Kavernenspeicher, hofft er, dass sich diese „aus dem Markt“ entwickeln werden. Er versprach jedoch eine entsprechende Berücksichtigung der Regulierungsbehörde bei der Netzentwicklungsplanung (NEP).
Wasserstoff in die Fläche bringen
Dr. Thomas Gößmann bezeichnet es als Mammutprojekt, parallel die Gasinfrastruktur zu erhalten und diejenige für Wasserstoff aufzubauen. Auf der Veranstaltung in Berlin erläuterte der Chef von Thyssengas am Beispiel von Nordrhein-Westfalen, wie sich Wasserstoff in die Fläche bringen lässt. Dazu sollen insgesamt sechs regionale Cluster als Potenzialregionen entlang der Hauptstränge des Kernnetzes entwickelt werden: Köln, Ruhrgebiet, Mittlerer Niederrhein, Niederrhein, Bentheim-Westmünsterland sowie Münster-Hamm. Diese Schwerpunktregionen sind aus Sicht von Thyssengas besonders geeignet als Keimzellen für die Entwicklung hin zu einer integrierten H2-Infrastruktur. Ein großes Augenmerk sollte nach der Einschätzung Gößmanns zudem auf den Aufbau grenzüberschreitender Kapazitäten gelegt werden. Diese ermöglichten eine breite Diversifizierung der Bezugsquellen.
Auch bei schwaben netz befindet man sich bereits mitten im Aufbau einer Umstellungsstrategie. Konkret sind die Aktivitäten in drei Großprojekte gegliedert. Projekt 1 beschäftigt sich mit dem Gasnetztransformationsplan. Wo befinden sich Kopplungspunkte zum H2-Kernetz? Wo und wann wird man auf Wasserstoff umstellen? Das sind die Fragen, denen man dort nachgeht. Ein weiteres Projekt ist die Zielnetzplanung: Die H2-Bedarfe großer Ankerkunden im Netzgebiet sowie Netzbereiche, die sich kosteneffizient transformieren lassen, sind die Herausforderungen, die der Netzbetreiber dort adressiert. Und das dritte Vorhaben ist ein Pilotprojekt zur Versorgung mit Wasserstoff. Konkret geht es um ein Gebiet mit mehreren Wohneinheiten, das mit Wasserstoff aus einer Chloralkali-Elektrolyse in einem Industriepark versorgt werden soll.
Diese Aktivitäten stoßen bereits heute auf ernsthaftes Interesse. Der Technische Geschäftsführer von schwaben netz, René Schoof, berichtet von „signifikanten“ Wasserstoffbedarfen seitens Industrie und Kommunen in Bayerisch-Schwaben mit Blick auf die Erreichung der Klimaziele 2030. Eine gemeinsame Web-Abfrage von bayernets, schwaben netz sowie der IHK Schwaben erbrachte hier konkrete Zahlen. Insgesamt wurde für das Jahr 2030 ein H2-Bedarf mit einer Leistung von 1.903 MW gemeldet. Dabei ist sich der Geschäftsführer sicher, dass eine reine Elektrifizierung der Energieversorgung viele überfordern würde. „Wir müssen auch den kleinen und mittleren Unternehmen die Chance geben, die richtige Lösung für sich zu finden“, unterstrich Schoof in Berlin.
Großer Zuspruch für Umstellung auf Wasserstoff
Dass sich die Gasnetzbetreiber auf breiter Fläche mit Umsetzungsszenarien beschäftigen, zeigt auch der diesjährige Gasnetztransformationsplan (GTP). Dabei handelt es sich um das zentrale Planungsinstrument für die Transformation der Gasverteilnetze hin zur Klimaneutralität. Nach dem Start 2022 stieg im dritten Planungsjahr die Anzahl der teilnehmenden Gasverteilnetzbetreiber auf 252. So deckt der GTP nun Gasleitungen mit einer Gesamtlänge von 450.000 km ab und erreicht 381 von 401 deutschen Landkreisen.
Abb. 3 a-c: Im Rahmen des Gasnetztransformationsplans (GTP) analysieren die Netzbetreiber die Bedarfe ihrer Kunden bis ins Jahr 2045
Im Rahmen des Gasnetztransformationsplans (GTP) analysieren die Netzbetreiber die Bedarfe ihrer Kunden bis ins Jahr 2045
Quelle: GTP 2024, DVGW/VKU)
Die Tendenz ist deutlich: Die Mehrheit der rund 1.100 durch die GTP-Teilnehmer versorgten Kommunen plant den langfristigen Einsatz klimaneutraler Gase sowohl in der Industrie als auch in Privathaushalten. (Lediglich zwei Prozent der Kommunen sprachen sich gegen den Einsatz in der Industrie aus, sieben Prozent lehnten einen solchen für Privathaushalte ab.) Und auch zwei Drittel der über 3.500 befragten Industrie- und Gewerbekunden sehen einen zukünftigen Bedarf an Wasserstoff, von den Großkunden ab 10 Mio. kWh sogar über 80 Prozent und davon ein Viertel bereits bis 2030.
„Umfangreiche Studien des DVGW und seiner Institute zeigen, dass die deutschen Gasverteilnetze mit volkswirtschaftlich vergleichsweise geringen Kosten technisch sicher für die Verteilung von Wasserstoff ertüchtigt werden können. Dies muss jetzt angegangen werden“, fordert DVGW-Chef Linke. Für die technische Umstellung bietet der DVGW mit verifHy die zentrale Plattform zur schnellen und komfortablen Überprüfung der Wasserstoffeignung von Gasnetzen und der verwendeten Produkte, Komponenten und Materialien an. Per Knopfdruck lassen sich zuverlässige Informationen zur H2-Readiness abrufen. verifHy unterstützt die Gasnetzbetreiber dabei, ihre Infrastrukturen auf die Eignung für Wasserstoff zu überprüfen. Die Datenbank soll so zum zentralen Beschleuniger für die H2-Netzumstellung werden.
Unproblematische Umstellung bei Avacon
Dass eine Umstellung auch in der Praxis möglich ist, hat man bei Avacon Netz nachgewiesen (s. HZwei-Heft Okt. 2022). Torsten Lotze aus dem Assetmanagement Gas/Wasserstoff verweist auf acht erfolgreiche Pilotprojekte mit PE- und Stahlnetzen im Rahmen des DVGW-Projektkreises „Wasserstoff in der Gasverteilung“. Die Netzbetreiber haben dort aufgrund der vorab durchgeführten Analysen keine Bauteile ausgetauscht. „Die oberirdische Überprüfung von erdverlegten Leitungen vor und nach der Umstellung bestätigte jeweils die technische Dichtheit“, berichtet Lotze. Während des Betriebs seien keine technischen Auffälligkeiten aufgetreten.
Eine Integritätsbeurteilung erfolgte vorab gemäß den DVGW-Merkblättern G407 (Umstellung von Stahlrohren bis 16 bar Betriebsdruck) sowie G408 (für PE-Rohre bis 16 bar Betriebsdruck). Die Materialien seien „safe“. Man habe in den Netzen nichts gefunden, was tatsächlich kritisch sei, betont Manager Lotze.
Mit diesem Wissen ist man in der Lage, bereits die nächsten Schritte zu gehen. „Wir können jetzt schon Netze bewerten und einen Umstellungsfahrplan aufstellen“, bilanziert der Avacon-Mitarbeiter. Dieser Plan sieht fünf konkrete Schritte vor:
- Bestandsaufnahme und Dokumentation der aktuellen Netzstruktur, Materialien und Betriebsbedingungen
- Netzanalyse, Materialanalyse und Bewertung der Wasserstoffbeständigkeit
- Ersatzmaßnahmen bei unvollständiger Dokumentation
- Technische Anpassungen
- Umstellung
Auf dieser Basis hat der Netzbetreiber den Avacon-Gasnetztransformationsfaktor (GTF) entwickelt. Konkret bewertet dieser, wie gut ein Gasnetz oder einzelne Komponenten in ein zukünftiges dekarbonisiertes Energiesystem überführt werden können. In der Integritätsbeurteilung werden eine H2-Bewertung sowie eine Bewertung der Sicherheit, des Zustands und des Datenbestands jeweils als Kennzahl dargestellt. Über den GTF lasse sich sofort sagen, wo hier das Gesamtnetz steht und wo einzelne lokale Abschnitte stehen, erläutert Lotze. Angesichts dieser Erkenntnisse und erzielten Fortschritte überrascht das Fazit des Avacon-Experten nicht: „Der Wasserstoff kann kommen, das Gasverteilnetz ist bereit.“
Klar ist: Das H2-Kernnetz erreicht nicht alle industriellen und gewerblichen Gasabnehmer mit Prozesswärmebedarf.
Quelle: Studie Prozesswärme – woher kommt die Energie? DVGW, DBI, DMT
Verteilnetz von besonderer Bedeutung
Bereit sind offensichtlich auch die Industriekunden: Laut dem H2-Marktindex (s. Infokasten) schätzen 76 Prozent der Marktakteure die Bedeutung von klimaneutral erzeugtem Wasserstoff für die zukünftige Energieversorgung in Deutschland als hoch und sehr hoch ein. Ein wichtiges Einsatzgebiet ist dort die Prozesswärme mit Temperaturen zwischen 100 und 1.500 Grad Celsius. Dieser Bedarf lag in den vergangenen Jahren bei rund 200 TWh. Das entspricht fast einem Zehntel des Endenergiebedarfs (Referenzjahr: 2020) von 2.318 TWh und einem Fünftel des Gasbedarfs in Deutschland.
Eine im Auftrag des DVGW erstellte Studie hat über 5.600 Industriestandorte hinsichtlich ihrer Versorgungssituation erfasst. Das Ergebnis zeigt die Bedeutung des Verteilnetzes: 27 Prozent der untersuchten Standorte sind weniger als einen Kilometer vom geplanten H2-Kernnetz entfernt und könnten direkt darüber versorgt werden. 78 Prozent des Gasbedarfs für Prozesswärme werden allerdings in einer Entfernung von über einem Kilometer zu diesem Netz entstehen. Zur Versorgung dieser Standorte wird daher ein wasserstofffähiges Verteilnetz benötigt. „Um den Wasserstoffhochlauf in Deutschland zu beschleunigen, muss der Fokus beim Ausbau der Wasserstoffinfrastrukturen stärker auf die Verteilnetze gelegt werden. Ihnen kommt eine besondere Bedeutung zu“, bringt DVGW-Chef Linke die Situation auf den Punkt.
Der H2-Marktindex – Barometer für den Markthochlauf
Der H2-Marktindex dient dazu, die Wahrnehmung von Marktakteuren bezüglich der Entwicklung eines Wasserstoffmarkts in Deutschland zu ermitteln. Zielsetzungen sind dabei die Abbildung der Wahrnehmungen von verschiedenen Stakeholdern, die Identifikation von Herausforderungen und möglichen Problemfeldern sowie das Erfassen relevanter Indikatoren zur Messung des Fortschritts des Wasserstoffmarkthochlaufs. Der H2-Marktindex umfasst die vier Themenfelder Innovationsumfeld, politisch-regulatorischer Rahmen, Infrastrukturausbau und Marktentwicklung. Die Indexergebnisse werden auf einer Skala von 0 (negativ) bis 100 (positiv) abgebildet.
Zur Erhebung des H2-Marktindexes 2024 wurde eine Online-Befragung von Stakeholdern der Wasserstoffwirtschaft durchgeführt. Insgesamt sind 311 indexrelevante Rückmeldungen in die Auswertung eingeflossen. Durchgeführt wurde die Befragung vom Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität zu Köln gGmbH (EWI) im Auftrag des DVGW, des Verbands der Chemischen Industrie e.V. (VCI), des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. (VDMA) und der Wirtschaftsvereinigung Stahl (WV Stahl).
Autor:
Michael Nallinger