Ein früherer Sportfernsehsender hat einmal mit dem Slogan „Mittendrin statt nur dabei“ für sich Werbung gemacht. Wären diese Worte deswegen nicht urheberrechtlich blockiert, könnte der Kreis Düren überlegen, sie für sich zu reklamieren. Denn noch mehr mittendrin im Rheinischen Revier zu liegen, ist nicht möglich. Die drei Braunkohletagebaue Inden, Hambach und Garzweiler befinden sich wenigstens zu großen Teilen innerhalb des Kreisgebietes. Was die Geschwindigkeit angeht, mit der Ideen für eine saubere Energietechnologie umgesetzt werden, ist der Kreis Düren nicht nur mittendrin, sondern ganz vorne mit dabei. Wasserstoff spielt dabei von Anfang an eine Schlüsselrolle.
Das größte kreiseigene Projekt ist der Umstieg der kompletten Bahn- und Bus-Flotte auf grünen Wasserstoff. Der nachhaltige Kraftstoff soll ab Anfang 2025 mit einer 9-MW-PEM-Elektrolyse direkt vor Ort hergestellt werden. Darüber hinaus werden derzeit immer mehr Wasserstoffprojekte überdurchschnittlich schnell sichtbar, die dem Kreis dabei helfen, sein Ziel, bis 2035 klimaneutral zu sein, zu erreichen (s. S. 26). Sie taugen außerdem auch als gutes Vorbild für andere. Produktionsanlagen für grünen Wasserstoff im industriellen Maßstab, wie sie bei Jülich entstehen, gibt es noch nicht viele. Laut der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien IRENA waren weltweit 2021 nur vier Prozent des hergestellten Wasserstoffs grün.
„Wir brauchen Pioniere, die vorangehen“, sagte Bundesverkehrsminister Volker Wissing, als er im Mai 2023 Förderbescheide über 81,6 Mio. Euro überreichte. Das Geld fließt unter anderem in den Aufbau der Elektrolyse, in die Anschaffung von 17 H2-Triebwagen, die bis 2026 die bisherigen Dieseltriebwagen ersetzen sollen, und in die Installation einer H2-Zugtankstelle auf Kreisgebiet. In einem anderen Projekt rüstet der Kreis die Flotte der Rurtalbus GmbH um. Aktuell fahren fünf H2-getriebene Busse durch den Kreis. Bis Ende des kommenden Jahres sollen 20 weitere über die Straßen des Kreises rollen.
Die Pionierleistung im Kreis Düren sieht Minister Wissing vor allem darin, dass nicht nur mit Wasserstoff angetriebene Züge auf die Schiene gesetzt werden, sondern die klimaneutrale Produktion des grünen Wasserstoffs gleich mit realisiert wird. „Wasserstoffprojekte sind wunderbar. Aber wo soll der grüne Wasserstoff herkommen? Klug ist es, wenn man diese Frage direkt beantwortet und sagt: Am besten ist, wenn wir ihn selbst herstellen.“
Vor den Fördergeldern angefangen
Dass ein solches Vorzeigeprojekt schon jetzt im Kreis Düren sichtbar wird, liegt daran, dass Landrat Wolfgang Spelthahn (s. Abb. 3) sehr früh angefangen hat, die Zukunft mit der Nutzung von Wasserstoff zu planen. Die 2020 im Strukturstärkungsgesetz festgelegten 14,8 Mrd. Euro Fördergelder für den Strukturwandel im Rheinischen Revier, der den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung bedeutet, standen noch gar nicht in Aussicht, als er das Ziel formulierte, den Kreis Düren zu einer H2-Modellregion zu machen. „Wir haben schon früh die Vorteile von grünem Wasserstoff erkannt und mit Weitblick in die Zukunft investiert. So konnten wir uns einen erheblichen Vorsprung aufbauen“, sagt Landrat Spelthahn.
2020 hat der Bund den Ausstieg aus der Braunkohle bis 2038 beschlossen und die Förder-Milliarden zugesagt. Ein Jahr später war der damalige NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart im Kreis Düren zu Besuch. Damals bezeichnete er das Rheinische Revier als „größtes Klimaschutzprojekt der Welt“. Die Aussage steht bis heute faktisch auf solidem Fundament: Das Rheinische Revier ist das größte Abbaugebiet für Braunkohle in Europa und damit zwangsweise ein großer Emittent für klimawirksame Gase wie CO2.
Was Pinkwart (FDP) nicht wissen konnte: Die schwarz-grüne Nachfolgeregierung sollte die Schlagzahl im Strukturwandel ein Jahr später noch einmal deutlich verschärfen. Nicht 2038 wird die letzte Braunkohle in Deutschlands Westen gefördert, sondern schon 2030.
Danach ist viel Kritik lautgeworden, beispielsweise aus der Industrie. Die bemängelt, dass der Ausstieg zu schnell sei, weil der Aufbau der neuen Technologien zu langsam funktioniere. So weigerte sich die Industrie- und Handelskammer Köln im Frühsommer, den sogenannten Reviervertrag 2.0 zu unterzeichnen. Beweggrund war eine einfache Rechnung: Um die mit dem Braunkohleausstieg wegfallende Energie auszugleichen, müssten im Revier 1.500 Windräder zusätzlich aufgebaut werden. Aktuell dauere es laut IHK Köln viel zu lange vom ersten Plan für ein Windrad bis zur Inbetriebnahme, nämlich sieben Jahre. Die Schlussfolgerung: Nicht nur die energieintensive Industrie im und um das Revier herum fürchtet um die Versorgungssicherheit.
Schon jetzt sichtbar
Aus diesem Szenario sticht der Kreis Düren mit seinen H2-Aktivitäten heraus. Denn ein Großteil der Projekte, die im Revier trotz alldem schon jetzt sichtbar werden, sind dort beheimatet. Der Solarpark mit einer Leistung von bis zu 9,2 MW, der einen Großteil der grünen Energie für die Elektrolyse liefern soll, ist schon installiert. Die 18.200 Solarmodule erreichen eine Leistung, mit der knapp 3.000 Haushalte versorgt werden können. Die CO2-Ersparnis pro Jahr liegt bei 4.604 Tonnen.
Die gewonnene Energie reicht allerdings nicht, um dauerhaft die angestrebte Zahl von 162 Kilogramm Wasserstoff pro Stunde bei angepeilten 4.000 bis 5.000 Volllaststunden pro Jahr herzustellen. Deswegen plant der Kreis, weitere regenerative Quellen zu nutzen. Errichtet und betrieben wird der Elektrolyseur von der HyDN GmbH, einer Gesellschaft, an der die Beteiligungsgesellschaft Kreis Düren mbH und die Messer Industriegase GmbH aus Bad Soden beteiligt sind.
Zeigen, was Wasserstoff kann
Ein wichtiges Anliegen des Kreises ist es, den Menschen zu zeigen, was Wasserstoff kann. Seit Ende 2022 ist ein sogenannter Kommandowagen bei der Rettungsdienst Kreis Düren AöR (Anstalt öffentlichen Rechts) mit Wasserstoffantrieb im Fuhrpark. Mit ihm, einem Hyundai Nexo, fahren die Führungskräfte zu ihren Einsätzen. Außerdem ist das Notwendigste an Bord, um Unfallopfer zu versorgen.
Noch in diesem Jahr soll auch ein erster Rettungswagen mit Wasserstoffantrieb in Dienst gestellt werden. Das Fahrzeug wird eine Spezialanfertigung, für die mehrere Unternehmen zusammenarbeiten. „Wenn wir einen mit Wasserstoff betriebenen Rettungswagen auf die Straßen im Kreisgebiet bringen, dann sehen die Menschen, dass diese Antriebsform in der alltäglichen Praxis funktioniert. Das sendet genau das richtige Signal an die Öffentlichkeit“, schilderte Landrat Wolfgang Spelthahn bei der Unterzeichnung der Absichtserklärung (Letter of Intent) für die Fertigung des H2-Rettungswagens.
Die Vorteile von Wasserstoff liegen laut Spelthahn auf der Hand: Anstelle der längeren Ladezyklen für Elektrofahrzeuge wird Wasserstoff getankt. Rund acht Minuten dauert der gesamte Vorgang bei diesem Fahrzeug. Die Reichweite ist höher als bei einem batteriegetriebenen Rettungswagen. Kurzum: Der Rettungswagen steht länger und flexibler zur Verfügung. Erst recht mit dem Aufbau der Wasserstofftankstellen im Kreisgebiet. Die erste in direkter Nähe zur Autobahn A4 wurde im September 2022 eröffnet und befindet sich seit dem Sommer im Gewerbegebiet „Im Großen Tal“ in Düren im Regelbetrieb.
Dass der Kreis auf Wasserstoff setzt, wird auch im sogenannten Welcome-Center in Düren sichtbar. Teil des Welcome-Centers ist ein H2-Infozentrum. Dieses bietet ab Oktober 2023 eine frei zugängliche Ausstellung, in der auf interaktive Art und Weise das Thema Wasserstoff von den Grundlagen über die Wertschöpfungsketten bis hin zur Anwendung aufgezeigt wird.
Eine H2-Messe fördert das Netzwerk
Eine weitere Botschaft transportiert der Kreis Düren einmal im Jahr auf seiner Wasserstoffmesse, die im August 2023 zum dritten Mal stattfindet: Ein Akteur allein kann zwar viel erreichen, aber die Energiewende mit Wasserstoff als wesentlicher Schlüsseltechnologie gelingt nur, wenn viele gemeinsam daran arbeiten. Die H2-Messe in der Jülicher Kulturmuschel bringt Expertinnen und Experten zusammen und bietet auch Bürgerinnen und Bürgern umfassende Informationsmöglichkeiten. Neue Ideen, Netzwerke und Kooperationen entstehen. Am Vorabend der eigentlichen Messe verleiht der Kreis den „Hygo“. Der Wasserstoff-Preis in den Kategorien Young Researchers, Start Up Innovation und Hydrogen Champion zeichnet Persönlichkeiten aus, die die Energiewende vorantreiben und dabei Wasserstoff als Energieträger der Zukunft im Fokus haben.
Von Anfang an Bestandteil dieser Ausstellung ist das Forschungszentrum Jülich. Die Grundlagenforschung, die hier zum Beispiel zur Elektrolyse oder zur Brennstoffzelle betrieben wird, findet seit vielen Jahren weltweit Beachtung. Das Forschungszentrum gehört zu den großen Triebfedern im Strukturwandel im Rheinischen Revier. Das wird ganz besonders an seinem jüngsten Institut deutlich.
Seit knapp zwei Jahren befindet sich das Institut für nachhaltige Wasserstoffwirtschaft (INW) im Aufbau, das im sogenannten Brainergy Park bei Jülich wächst, einem Gewerbepark, dessen Versorgungsinfrastruktur nach dem neuesten Stand der Technik angelegt wird. Der Kreis Düren, der am Rand des Gebiets mit Partnern seine PEM-Elektrolyse aufbaut, gehört zu den Gesellschaftern des Parks. Das INW betreibt Grundlagenforschung zu den Themen Speicherung und Transport von Wasserstoff. Es bildet aber auch den Kern eines Clusters, in dem Forschungsergebnisse direkt in die Anwendung gebracht werden sollen.
Das Helmholtz-Cluster Wasserstoff (HC-H2) ist das größte Förderprojekt beim Strukturwandel im Rheinischen Revier mit einem Volumen von etwas mehr als einer Milliarde Euro. Und es ist das größte H2-Infrastrukturprojekt in Deutschland. Es soll eine Sogwirkung entwickeln und mit dem eigenen Wachstum auf über 500 Mitarbeitende dafür sorgen, dass sich in der Umgebung weitere Firmen ansiedeln, die mit Wasserstoff in die klimaneutrale Zukunft gehen wollen.
„Es hilft sehr, dass wir im Kreis Düren in einer Region angesiedelt sind, die so schnell ist, wenn es darum geht, Wasserstoff in die Anwendung zu bringen“, sagt INW-Direktor Andreas Peschel. „Es bringt das Thema Wasserstoff stark voran, wenn die Menschen beispielsweise sehen, wie Züge mit Wasserstoff rollen und Rettungswagen fahren.“
AutorInnen: Guido Jansen, Forschungszentrum Jülich GmbH, Institut für nachhaltige Wasserstoffwirtschaft (INW) / Anne Schüssler, Kreis Düren
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