Seit einiger Zeit macht eine kleine Gemeinde in Nordfriesland energietechnologisch von sich reden, denn die energetische Versorgung des neuen Wärmenetzes von Bosbüll ist alles andere als Standard. Durch ein Power-to-X-Konzept und eine dreifache Sektorenkopplung bleiben die Ü20-Wind- und Solaranlagen auch im Post-EEG-Betrieb rentabel, während die Wärmeversorgung der 250-Seelen-Gemeinde gesichert bleibt. Das nordfriesische Leuchtturmprojekt zeigt, wie grüne Energiezukunft intelligent geschrieben werden kann.
Am 8. September 2021 hat die nordfriesische Gemeinde nahe der dänischen Grenze das erste Power-to-Heat-Wärmenetz (PtH) Schleswig-Holsteins mit einem „Wärmefest“ feierlich eröffnet. Doch schon vor der Einweihung profitierten die bereits angeschlossenen Haushalte und ein landwirtschaftliches Großunternehmen von dem neuen, 2.680 Meter langen Fernwärmenetz.
Startpunkt war die Heizzentrale, die die Yados GmbH, die für die technische Realisierung der PtH-Lösung und das Leitsystem verantwortlich zeichnet, konstruiert und in Bosbüll aufgestellt hat. Die in einer 60 Tonnen schweren Betonzelle untergebrachte Energiezentrale steht direkt neben dem ersten Abnehmer, einer Muttersauenzucht. In unmittelbarer Nähe der Energiezentrale hat auch eFarm seinen Sitz, an den das Wärmenetzsystem sektorengekoppelt ist. In etwa einem Kilometer Entfernung erreicht das neu ausgebaute Wärmenetz die 25 Bosbüller Haushalte, die in der ersten Bauphase angeschlossen wurden. Weitere private und gewerbliche Abnehmer sollen in einem zweiten Schritt folgen.
Vom Post-EEG-Betrieb zur energietechnologischen Blaupause
Zwei Bürgerwind- und -solarparks liefern seit Jahren elektrische Energie für die Gemeinde Bosbüll. Das hat ökonomische Vorteile zum einen für die BürgerInnen, die an den Parks finanziell beteiligt sind, und zum anderen für die Gemeinde selbst, die durch die Gewerbesteuereinnahmen zahlreiche neue Projekte finanzieren kann. So bleibt die Wertschöpfung in der Region und trägt zu deren ökonomischer Stabilität bei. Ende 2021 lief die EEG-Förderung für zwei der Windenergieanlagen aus, weitere fallen in den kommenden Jahren aus dem Förderrahmen heraus. Auch der Solarpark verliert seine Bezuschussung Ende des Jahrzehnts. Doch mit dem Power-to-X-Projekt, das die Sektoren Stromerzeugung, Wärmebereitstellung und Kraftstoffproduktion koppelt, bleiben die alternativen Energiequellen weiterhin wirtschaftlich, und die Gemeinde profitiert durch eine zukunftsweisende ökologische und ökonomische Versorgungslösung.
BAFA-Förderung – kompliziert, aber lohnend
Um den Förderantrag beim BAFA (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle) zu stellen, wurden die Bosbüll Energie GmbH und die Bosbüll Energie GbR gegründet. Da die Gemeinde laut schleswig-holsteinischem Kommunalrecht nicht an einer GbR beteiligt sein darf und gleichzeitig Energieerzeuger und Energieverbraucher in einer Hand sein müssen, war die Kommune gezwungen, aus der eigentlich geplanten Teilhabe selbst auszusteigen. Nach langen, umfangreichen Planungsarbeiten konnte der Antrag für das Förderprogramm „Wärmenetzsysteme 4.0“ des BAFA schließlich gestellt werden, und das mit lohnendem Ergebnis: Von 1,9 Mio. Euro Aufwand sind 1,6 Mio. Euro förderfähig.
Verantwortlich für die Konzeption, Planung und Umsetzung des Verbundprojekts ist die GP Joule GmbH. Die Zusammenarbeit mit Akteuren in der Gemeinde hat bereits 2009 begonnen, als das nordfriesische Unternehmen den Solarpark projektiert und gebaut hat. Seitdem ist es für die technische Betriebsführung zuständig. Darüber hinaus ist GP Joule zusammen mit dem Windpark Bosbüll Gesellschafter der Bosbüll Energie GmbH und als Initiator für das Wasserstoffprojekt eFarm zuständig.
Mit Power-to-Heat ins Wärmenetz
Das PtX-Projekt steht auf zwei Säulen: Zum einen sorgt eine ausgeklügelte Power-to-Heat-Lösung über Luft-Wasser-Wärmepumpen für die Wärmeversorgung via eigenes Fernwärmenetz, und auf der anderen Seite produziert eine Power-to-Gas-Anlage Wasserstoff für ein überregionales H2-Mobilitätskonzept.
Um den jährlichen Bedarf der angeschlossenen Haushalte mit insgesamt rund 500 MWhtherm und des landwirtschaftlichen Großbetriebs mit etwa 600 MWhtherm zu decken, stehen in Bosbüll drei vorlaufgeregelte Luft-Wasser-Wärmepumpen. Sie wandeln den regenerativ erzeugten Strom aus den Bürgerenergieparks mit einer Gesamtleistung von 240 kW in Wärmeenergie für das Wärmenetz um. Ein Elektroheizeinsatz mit einer Leistung von 750 kW ergänzt die thermische Energie, indem er in einem 14 Meter hohen und 84 Kubikmeter großen Speicher Wasser erhitzt. Auf diese Weise kann die Energie bis zu vier Wochen zwischengespeichert werden. In der Energiezentrale stehen darüber hinaus ein Hoval-Max-3-Gasheizkessel zur Spitzenlastabdeckung sowie eine Hydraulikstation zur Wärmeverteilung bereit.
Ist die Hydraulik im Fluss, ist die Anlage in Balance
Um das Maximum an Effizienz bezogen auf das gesamte thermische Energiesystem zu erreichen, müssen die beteiligten Erzeuger und Verbraucher aufeinander abgestimmt und möglichst nah an ihrem jeweiligen Wirkungsgradoptimum betrieben werden. Hierfür ist die Hydraulikstation des in Hoyerswerda ansässigen Unternehmens Yados zuständig: Sie optimiert zum einen das Zusammenwirken von Energieerzeuger, Wärmeerzeuger, Wärmespeicher und Wärmeverteiler. Zum anderen stellt die Hydraulikstation grundsätzlich sicher, dass thermische Energie zur geplanten Zeit in der gefragten Menge am richtigen Ort zur Verfügung steht – und das Ganze unter Verwendung möglichst geringer Antriebsenergie.
Außerdem bindet sie nicht nur den Wärmespeicher so ins System ein, dass nur Lade- und Entladevolumenströme durch den Speicher fließen, sondern verbessert auch die Schichtung der Temperaturen. Für den bedarfsgerechten Fernwärmenetzbetrieb sind niedrige Rücklauftemperaturen maßgeblich. Sie beeinflussen nicht nur die Volumenströme, die Übertragungskapazität und den elektrischen Pumpenaufwand, sondern minimieren auch gleichzeitig Strömungs- und Wärmeverluste. Die Vorlauftemperatur liegt bei 70 bis 85 °C, während die Rücklauftemperatur etwa 50 bis 55 °C beträgt.
Smarte Anlagensteuerung
Ein weiterer wichtiger Punkt, um das hohe Effizienzpotenzial eines intelligenten Sektorenkopplungskonzepts vollumfänglich ausschöpfen zu können, ist eine gut abgestimmte Mess-, Steuer- und Regelungstechnik (MSR). Sie übernimmt die komplexe Aufgabe der exakt aufeinander abgestimmten Systemintegration aller am Prozess beteiligten Komponenten. Die ostdeutschen Wärmenetzspezialisten haben hierfür das Leit- und Kommunikationssystem YADO|LINK installiert. Um die wichtigsten Anlagenparameter direkt zu koordinieren, regelt und vernetzt das Steuersystem neben sämtlichen Anlagen der Energiezentrale auch die Wärmeübergabestationen und ihre eingebauten DDC-Regler. Auf einem großflächigen und bedienerfreundlich eingerichteten 21,5-Zoll-Display können die Zuständigen durch das Prinzip des Echtzeit-Monitorings alle anlagenrelevanten Daten und Informationen abrufen und einsehen: Temperaturen, Drücke, Störmeldungen usw. Um die Installation und die Inbetriebnahme der Steuertechnik so einfach wie möglich zu gestalten, lieferten die Ingenieure das Ganze in zwei kombinierbaren Schaltschrankgehäusen fertig vormontiert und verdrahtet in Bosbüll an.
Sicherheit und Effizienzverbesserung durch MSR-Technologie
Die Leittechnik dient generell als Koordinationsinstrument aller dezentralen Erzeugungs-, Verteil- und Übergabeprozesse von Wärmeenergie, Strom und Kälte. Zu ihrer Aufgabe gehört es, den gesamten Anlagenbetrieb nach definierten Soll-Vorgaben zu realisieren. Hierzu erfasst ein automatisiertes Echtzeit-Monitoring alle relevanten Daten und wertet diese schließlich aus. Kommt es auf der Verbraucher- oder der Erzeugerseite zu Abweichungen, greift die Regelungsfunktion und passt den entsprechenden Betrieb der betroffenen Komponente an.
Vernetzte Sensoren, Aktoren und modulare Regelungseinheiten liefern dem Leitsystem die hierfür erforderlichen Informationen. Dabei wird eine Vielzahl komplexer Funktionsabfragen verarbeitet. Im akuten Bedarfsfall kann so automatisiert oder manuell regulierend in laufende Produktions-, Speicher- oder Verteilvorgänge eingegriffen werden. Diese Bedarfsfälle treten nicht nur bei technischen Störungen, in Ausfallsituationen oder bei plötzlich veränderten Leistungsabfragen ein, auch die äußeren Bedingungen wie eine unvorhergesehene Hitzewelle oder ein spontaner Temperatursturz können dazu führen.
Eine strategische Optimierung der Anlagenführung ist ebenfalls durch eine kontinuierliche Auswertung aller systemimmanenten Soll- und Ist-Werte möglich, indem sich aus den gesammelten Informationen wiederkehrende Trends oder auch langfristige Vorhersagen ableiten lassen. MSR-Systeme der neuesten Generation gelten als wichtige Stellschraube für die weitere Effizienzverbesserung in der Energieversorgung.
Darüber hinaus kann die Leittechnik zur Stabilisierung und zu einem höheren Komfort bei der Wärmebereitstellung beitragen. Der Primärenergieeinsatz lässt sich durchschnittlich um acht bis zehn Prozent (in besonders nutzungsintensiven Fällen auch um bis zu 30 Prozent) durch die systembasierte Überwachung und Steuerung der Anlagenfahrweise und durch die Ausregelung der Rücklauftemperaturen per MSR-Technologie senken.
Wärmeübergabestationen für stabile Netzführung
Neben einer intelligenten übergeordneten Anlagensteuerung sind für den optimalen Betrieb eines Fernwärmenetzes die Wärmeübergabekomponenten von zentraler Bedeutung. In der kleinen nordfriesischen Gemeinde verbinden Smart-Home-fähige Wärmeübergabestationen die Gebäudeheizungsanlagen der Verbraucherseite mit dem Fernwärmenetz. Sie übertragen als regulierende Verbindungseinheit, hydraulisch durch einen Plattenübertrager getrennt, das Wärmemedium abhängig von Bedarf, Temperatur und Druck. Eine in den Übergabestationen verbaute Direct-Digital-Control-Regelung (DDC) berechnet dabei die erforderlichen Vorlauftemperaturen unter Einbezug aller relevanten – externen und individuell definierten – Parameter wie Witterungsverhältnisse oder Zeit- und Komfortvorgaben der Nutzer. In Planung sind weitere zusätzliche Anpassungen der Heizsysteme auf Seite der Verbraucher. Darüber hinaus sorgen in der nordfriesischen Kommune maximal gedämmte Rohre dafür, die Wärmeverluste im Fernwärmenetz so niedrig wie möglich zu halten.
Mit Power-to-Gas auf die Straße
Die Energie der Bürgerwind- und -solarparks dient neben dem Betrieb des Fernwärmenetzes auch der Produktion von grünem Wasserstoff. Dieser ist unverzichtbar für die langfristige Dekarbonisierung der Sektoren Mobilität, Wärme und Industrie. Der in Bosbüll produzierte Wasserstoff wird zur Betankung von Wasserstofffahrzeugen genutzt.
Die Power-to-Heat-Anlage erhält durch den Anschluss an das eFarm-Projekt die ideale Ergänzung durch ein Power-to-Gas- bzw. Power-to-Fuel-Konzept. Dieses nachhaltige H2-Mobilitätsprojekt zielt auf eine modular erweiterbare Wasserstoffinfrastruktur im Kreisgebiet Nordfriesland. Von den dort mittlerweile installierten fünf Polymer-Elektrolyt-Membran-Elektrolyseuren (PEM) stehen zwei in Bosbüll. Die beiden generieren mit einer Gesamtleistung von 450 kW insgesamt täglich etwa 200 kg Wasserstoff aus dem regional erzeugten Solar- und Windstrom.
Dabei spaltet der Elektrolyseur mithilfe des elektrischen Stroms auf der Anodenseite seiner Elektroden destilliertes Wasser in Sauerstoff, freie Elektronen und positiv geladene H+-Ionen. Die H+-Ionen diffundieren durch die protonenleitende Membran auf die Kathodenseite, wo sie mit den Elektronen zu Wasserstoff werden.
Der Wirkungsgrad der Elektrolyseure in Bosbüll liegt bei bis zu 95 Prozent. Das liegt unter anderem auch daran, dass die Abwärme der H2-Erzeugung (etwa 100 MWhtherm) dem Wärmenetz zugeführt bzw. im Wärmespeicher zwischengepuffert wird. Der grüne Wasserstoff wird nach seiner Produktion an zwei H2-Tankstellen in Niebüll und Husum transportiert. Eine Verdichtungsanlage sorgt für die benötigten Betankungsdrücke von 350 bar für Busbetankungen und andere Nutzfahrzeuge mit 350-bar-Tanks und 700 bar für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge.
Zwei im Rahmen des Projektes angeschaffte Brennstoffzellen-Busse des öffentlichen Personennahverkehrs nutzen die bei der Reaktion von Wasserstoff und Sauerstoff freigesetzte Energie als Antriebsenergie. Dabei reicht eine Tankfüllung der Busse für 400 Kilometer, was einem regulären Betriebstag im Linienverkehr entspricht. Neben den beiden Linienbussen wurden auch 30 Pkw mit Brennstoffzellenantrieb im Projektvolumen verankert. Diese werden nach und nach an die neuen Besitzer übergeben. Neu hinzugekommen ist eine Fahrschule aus dem Kreisgebiet, die nun statt zweier Dieselfahrzeuge zwei BZ-Fahrzeuge für ihren Fahrunterricht nutzt. Bei den Pkw reicht eine Tankfüllung für bis zu 600 Kilometer und kostet rund 60 Euro.
Gezielte Nutzung von Ausfallarbeit
Ein großes Problem der Erzeugung regenerativer Energie ist und bleibt es, Energien aus Sonne, Wind und Wasser in größeren Mengen und über längere Zeit zu speichern. Durch volatile Leistungsspitzen und negative Residuallasten aus alternativen Energiequellen erhöht sich der Bedarf an Netz- und Systemsicherheitsmaßnahmen wie den Einsman-Schaltungen, die auch als Einspeisemanagement bezeichnet werden und in § 14 EEG 2021 geregelt sind. Die durch diese Zwangsabregelungen verloren gegangene Energie, die sogenannte Ausfallarbeit, erreichte in Deutschland im Jahr 2021 die enorme Summe von 6,1 TWhel.
Um dieses große Dekarbonisierungspotenzial zu nutzen, wandeln PtX-Projekte die überschüssige regenerative Energie in elektrische Wärme bzw. thermische Last oder einen anderen Energieträger, wie in diesem Fall Wasserstoff, um. Auch das Energiekonzept von Bosbüll nutzt gezielt bevorzugt die Überschusserträge aus den Wind- und Solarparks, die sonst zu einer Überlastung des Netzes und damit zu Abregelungen führen würden. So dient die ansonsten überschüssige Energie dazu, die BürgerInnen warm zu halten und für ihre Mobilität zu sorgen.
Vielversprechende Energiezukunftsmusik
Das Modell Bosbüll ist ein Leuchtturmprojekt, das gerade in diesen Zeiten, in denen die schnellstmögliche Dekarbonisierung oberste Priorität hat, als Blaupause für die Energiekonzepte anderer Kommunen dienen kann. Allein durch die Power-to-Heat-Anlage konnte die nordfriesische Gemeinde 180.000 Liter Heizöl jährlich einsparen. Darüber hinaus haben lokale Energiebezugslösungen immer auch den Vorteil einer weitgehenden Marktunabhängigkeit – und zwar nicht nur bezogen auf die Versorgungssicherheit, sondern auch auf den Schutz vor Preisvolatilität. Und nicht zu vergessen: Die aus dem Projekt resultierende Wertschöpfung bleibt in der Kommune und kommt allen Bürgern zugute.
Um die Effizienz solch gekoppelter regenerativer Energiesysteme auf einem hohen Niveau zu halten, spielen die Qualität des Gesamtsystems und das über die Steuerungstechnologie gelenkte Zusammenspiel der einzelnen Komponenten eine enorme Rolle. Die Kombination aus regenerativ erzeugter elektrischer und thermischer Energie und smarten Speicher- und Verteilkonzepten ist sicherlich eines der Zugpferde, die zu einem schnellen Gelingen der Energiewende beitragen können.
Erstveröffentlichung des Artikels in der Zeitschrift bbr Leitungsbau|Brunnenbau|Geothermie.
Autor:Martin Gentner, YADOS GmbH, Hoyerswerda
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